Es gibt keine menschliche Gemeinschaft, auch nicht die einer intakten Familie, in der Menschen nicht aneinander schuldig werden. 

Wo immer aber Vater und Mutter, Eltern und Kinder einander Unrecht tun, treten sie zugleich in Widerspruch gegen Gottes Willen. 

So wird die Mauer, die Menschen voneinander trennt, immer auch eine Mauer zwischen Gott und den Menschen. Die Beseitigung dieser doppelten Mauer ist die Vergebung. Die Wirkungsgeschichte von Schuld und Vergebung zeigt zum Beispiel die Begegnung von Jesus mit dem Oberzöllner Zachäus. Zachäus hatte sich an seinen Mitmenschen versündigt. Er beutete sie förmlich aus. Dieses Handeln stand im klaren Widerspruch zum Gebot: "Du sollst nicht stehlen" (2. Mose 20,15). 

Jesus vergibt dem Oberzöllner, und zwar ohne viel Worte zu machen. Er kehrt bei ihm als Gast ein und hebt damit die Ächtung des Zachäus auf. Zachäus kann von diesem Augenblick an das tun, was er vorher nicht konnte: ein neues Leben beginnen (Lk 19, 1-10). 

Unvergebbare Schuld wirkt wie ein Anker, der ein Boot an einer bestimmten Stelle festhält. Der, der dem anderen nicht vergibt, "gleicht einem Menschen, der sich ins Boot setzt und anfängt zu rudern, aber trotzdem nicht vorwärts kommt, weil er den Anker nicht gelichtet hat" (E. Steinwand). 

Für ein Kind ist nichts schwerer zu ertragen und nichts störender für sein gesamtes Leben, als wenn Eltern im eine Schuld nachtragen. Im Bewusstsein einer nicht vergebenen Schuld lebt das Kind fern von seinen Eltern. 

Die Bitte um Vergebung kann keiner dem anderen abnehmen, sie muss vom schuldig Gewordenen selbst gesprochen werden. Der, der dem anderen vergibt, hat die Möglichkeit, durch mannigfache Zeichen der Liebe deutlich zu machen, dass die Sache wirklich wieder gut ist. Vergebung ist ein schöpferischer Akt, der dort, wo Leben gescheitert war, einen Neuanfang setzt. 

Hansjörg Bräumer 

(Auszug aus dem Buch "Zum Leben erziehen")